Offener Brief: Ablehnung der Richtlinie zur Förderung von Ferienprogrammen in Verbindung mit Lernangeboten

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Am 29. April 2021 veröffentlichte die Landesregierung Brandenburg, vertreten durch die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport, die Richtlinie zur Förderung von Ferienprogrammen in Verbindung mit Lernangeboten. Wir haben unsere Ablehnung zur Richtlinie in einem offenen Brief

an den Ministerpräsidenten zum Ausdruck gebracht:

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,

am 29. April 2021 veröffentlichte die Landesregierung Brandenburg, vertreten durch die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport, die Richtlinie zur Förderung von Ferienprogrammen in Verbindung mit Lernangeboten. Es ist sicherlich nicht üblich, programmbezogene Stellungnahmen zu Richtlinien einzelner Ressorts an die Staatskanzlei zu übermitteln. Jedoch ist es Ausdruck eines aus unserer Sicht besonderen Missverhältnisses, dass wir uns mit unserem Anliegen an Sie wenden.

Als freie und kommunale Träger der Jugendarbeit teilen wir uneingeschränkt das Interesse der Landesregierung, Kindern und Jugendlichen in Brandenburg besondere Ferienangebote zur Überwindung der pandemiebedingten Defizite unterbreiten zu können. In Erinnerung an die positiven Erfahrungen aus den Projekten des Vorjahres und in Erwartung dieser Richtlinie bereiteten viele unserer Mitglieder seit Wochen ebensolche Angebote vor. Nach Veröffentlichung der Richtlinie äußerten jedoch die Maßnahmeträger einstimmig Unmut. Das macht sich an einer Reihe von Punkten fest, die wir kurz darstellen möchten.

Die Richtlinie verstößt gegen bundesweit fachlich anerkannte Standards

Die Richtlinie RL-MBJS Ferien 21 verstößt grundlegend gegen das allgemein anerkannte Verständnis von Jugendarbeit. Freiwilligkeit, Niedrigschwelligkeit, Lebensweltorientierung und partizipative Gestaltung sind nicht allein leere Floskeln, sondern handwerkliche Prämissen und Voraussetzungen für die Entwicklung und Umsetzung von Angeboten, die mit und für junge Menschen funktionieren sollen. Nicht umsonst werden diese Prinzipien im bundesweiten Fachdiskurs einheitlich anerkannt. Das berücksichtigt die vorliegende Richtlinie in der Konsequenz ihrer alleinigen Ausrichtung auf den Ausgleich schulischer Defizite nicht.

Obwohl die sozialen und kommunikativen Bedürfnisse der jungen Menschen zum zentralen Anlass der Förderung genommen werden (siehe 2.1), ist die Richtlinie maximal darauf ausgerichtet, formale Bildungsdefizite zu überwinden. Schulische Ausrichtungen und letztlich auch Methoden und Techniken bestimmen Struktur und Umsetzung eines Jugendhilfeangebotes. Mit der verpflichtenden Abfrage und Dokumentation von individuellen Lernrückständen wird zudem die exakte Bearbeitung dieser Defizite suggeriert. Damit werden zum einen Erwartungen bei jungen Menschen und deren Eltern geweckt, obwohl unklar ist, ob Ergebnisse dieser Lerndefizitausgleiche schulkompatibel – etwa über Noten – dokumentiert werden. Zum anderen wird auch die gesamte Aktivität auf ein übergeordnetes, nicht von Jugendhilfe verantwortetes Ziel ausgerichtet.Eine Leistung, die auf den Ausgleich eines schulischen Defizits unter Zuhilfenahme sozialpädagogischen Handelns ausgerichtet ist, müsste von seiner Auftrags- und Finanzierungsstruktur anders aufgebaut sein. Dann sollte Jugendarbeit in ihrer Kompetenz als Serviceleistende für Schule angefragt, beauftragt und entsprechend finanziert werden. In der vorliegenden Grundkonstruktion der Richtlinie ist das bislang umgekehrt geregelt. Sie verschärft hingegen Ungleichheiten zwischen Akteuren der formalen und der nonformalen Bildung.

Neben der Ausrichtung anhand konkret zu benennender Unterrichtsfächer empfinden wir es als Zumutung, dass junge Menschen einen schulischen Nachweis über „wahrnehmbare Lernrückstände“ (Nr. 4.3) erst einholen und dann vorweisen müssen, um an den geförderten Ferienangeboten teilnehmen zu können. Dies stellt eine nicht hinnehmbare Stigmatisierung, zum Teil sogar öffentliche Demütigung ebenjener Personengruppe dar, die nachweislich durch die Pandemie in besonderem Maße benachteiligt wurden. Da davon auszugehen ist, dass durch die Einschränkungen des vergangenen Jahres nahezu allen jungen Menschen die Möglichkeit verwehrt wurde, sich in Bezug auf die schulischen, sozialen, kommunikativen, psychischen oder physischen Bedürfnisse adäquat zu entwickeln, können wir eine gesonderte Lerndefizit-Feststellung nicht nachvollziehen.

Die Landesregierung ignoriert die Beteiligungsrechte

Die Brandenburgische Kommunalverfassung ist in Bezug auf die Beteiligungsrechte von jungen Menschen einzigartig in Deutschland. Das seit 2018 bestehende Recht, von Kindern und Jugendlichen, an allen sie berührenden Entscheidungen beteiligt zu werden, wird jedoch auf Landesebene konsequent ignoriert. Stattdessen werden die Heranwachsenden in der o. g. Kinder- und Jugendhilfe-Förderrichtlinie entgegen ihres gut dokumentierten Wunsches ausdrücklich auf ihre Stellung als Schülerinnen und Schüler reduziert. Dies ist insbesondere für ein für Kindheit und Jugend zuständiges Ministerium nicht kommunizierbar.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

in den vergangenen Monaten konnten wir Tendenzen einer nicht ausreichenden Berücksichtigung der Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt und der Kinder- und Jugendarbeit im Speziellen beobachten. Das drückt sich u. a. in der von den Bund-Länder-Beschlüssen abweichenden Formulierung der Eindämmungsmaßnahmen sowie bei der Missachtung der Impfpriorisierung aus, indem Fachkräfte der Jugend(sozial)arbeit vorerst nicht in der Kategorie 3 berücksichtigt wurden.

Wir richten unseren Appell daher an die gesamte Landesregierung, das Wohl der Kinder und Jugendlichen im Land Brandenburg nicht von fiskalischen und organisatorischen Hürden abhängig zu machen. Vielmehr gilt es, unter Beteiligung der Heranwachsenden und der handelnden Akteure Maßnahmen zur Überwindung der pandemischen Auswirkungen zu entwickeln und umzusetzen.

Die o. g. Richtlinie lehnen wir entschieden ab. Wir ermutigen unsere Mitglieder, in eigener Verantwortung mit den Heranwachsenden und ihren Familien abgestimmte Ferienangebote zu unterbreiten. Dies reduziert zwar deutlich die Teilnahme-Kapazitäten, ermöglicht jedoch nonformales und informelles Lernen ohne Stigmatisierung.

Wir freuen uns über die sonst sehr konstruktive und wertschätzende Zusammenarbeit mit dem MBJS, weshalb wir nochmal zum Ausdruck bringen möchten, dass unsere Ablehnung in dieser Situation nicht als grundsätzliches Desinteresse an der Unterstützung der Landesregierung zu werten ist. Sehr gern bieten wir an, die Perspektive und Erfahrungen unserer Mitglieder in die Gestaltung eines kinder- und jugendfreundlichen Landes einzubringen.

Mit freundlichen Grüßen

Thomas Lettow, Vorsitzender
Sebastian Müller, Geschäftsführer

Anhänge:

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